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OMNIA Nr. 10

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Mai 2018 – Ausgabe

Mai 2018 – Ausgabe #10 dieses Mal in einem Kurhaus, das die Atemtherapie und den Körperdialog als Therapieform anbot. Durchatmen. Ankommen. Okay. So könnte es funktionieren. Ein Üben. Ein Spüren. Ein Herausfinden: „Ich bin hochsensibel.“ – Was bedeutet das? Es begann damit, dass Claudia* an einem schönen Sommertag auf dem Rad zur Arbeit fuhr. Plötzlich steckte der Vorderreifen in einer Straßenbahnschiene fest, sie überschlug sich und fiel auf den Kopf. Geschützt durch einen Helm dachte sie, es sei nichts geschehen, und fuhr weiter. Der Schock verging, der Unfall wurde bald vergessen. Als sich plötzlich Gleichgewichtsstörungen einstellten, wurden sie nicht großartig diskutiert, denn sie wusste um diese „Schwachstelle“ in ihrem Körper. Zwei Monate nach dem Unfall kam dann aber der totale Zusammenbruch: Von einer Minute auf die andere konnte sie weder stehen noch laufen. Sie brach mitten auf der Straße zusammen und wurde mit dem Krankenwagen in die Klinik gebracht. Viele Untersuchungen folgten und auch Ursachenforschung wurde betrieben. Sie musste neu lernen, zu laufen, das Gleichgewicht zu halten: zunächst vom Rollstuhl aus, dann mit dem Rollator, bis das Gehen nach drei Monaten wieder möglich war. Aus der Klinik entlassen dachte sie, jetzt würde wohl auch die permanente Müdigkeit weichen, jetzt, wo der Alltag wiederkommen konnte. Weit gefehlt. Konzentrationsmangel, Schwäche, Müdigkeit waren von nun an ihre Gegenüber, mit denen sie kämpfte, denn die Eingliederung in die Arbeitsstelle sollte doch bald wieder erfolgen. So schnell wie möglich. Irgendwie. Obwohl Ärzte sie für arbeitsunfähig hielten, wollte sie langsam mit einigen Stunden pro Woche starten. Nach wenigen Tagen spürte sie jedoch, wie unmöglich das war. Schwindel, Gleichgewichtsstörungen – alles wieder da. Es folgte der nächste Klinikaufenthalt, Damit einher gingen viele Fragen des Systems: Wann ist eine Eingliederung in den Arbeitsalltag wieder möglich? Wer zahlt? Frührente? Arbeitslose? Krankentaggeld? Wie lange, wie hoch – und natürlich auch: warum? Arztbesuche folgten, um herauszufinden, ob es auch alles echt ist. Psychopharmaka wurden vorgeschlagen, so als ob dann alles leichter zu schaffen oder zu tragen wäre. Doch die Patientin lehnte ab. Sie wollte klar bei Verstand bleiben, wusste, sie war nicht depressiv, sie war keine Burn-out-Patientin. Es war „irgendetwas“ anderes. Eine konkrete schulmedizinische Diagnose fehlt bis heute – aber viele wurden gestellt. Ein weiterer Klinikaufenthalt folgte wegen Systemüberforderung. Das war eine Tortur, denn der Körper konnte auch dort einfach nicht mithalten. Er muss? Er kann nicht. Und er macht auch nicht mit. Durch Zufall kam sie dann zu einer Psychiaterin, die auch homöopathisch behandelt. Sie glaubt, dass der Unfall viele unverdaute Traumata aufgebrochen habe, die ihren Körper schlicht „unfähig“ machen, zum Beispiel zu leisten, in dieser Macher-Gesellschaft. Seit Langem geht es nur noch darum, Stabilität im Körper herzustellen, die Müdigkeit und die Konzentrationsschwächen in den Griff zu bekommen. Im völligen Zustand der Schwäche kann Claudias Körper gar nichts mehr. Nicht lesen. Nicht schreiben. Keine Musik hören. Nichts. Diese Art der Stille ist in unserer Gesellschaft auch nicht vorgesehen. Und das „Bei-sich-Bleiben“, statt die Bedürfnisse der anderen zu erfüllen, auch nicht. Traumata gab es in Claudias Kindheit einige, zum Beispiel einen Schädelbruch als Dreijährige mit – wie sie heute weiß – einer Nahtoderfahrung. So viel zum Thema Kopfverletzung, die jetzt (endlich) heilen darf. Aber macht das System hier mit? 30

Während die Patientin mit dem eigenen Körpersystem und den eigenen Wahrnehmungen beschäftigt ist, will das Gesellschaftssystem einen funktionierenden Menschen – am liebsten so, wie er war. Freunde fallen weg. Die Arbeit sowieso. Der Partner ist zum Glück in diesem Fall geblieben und ging mit in diesen großen Prozess der Wandlung. Die Familie ist auch so ein System, das nach seinen eigenen Regeln spielt. Und auch das bricht in gewissem Maße weg, wenn man nicht mehr so wie vorher zur Verfügung steht. Ich wünsche Claudia von ganzem Herzen, dass es ihr bald wieder besser geht, und ich danke ihr, dass ich diese Geschichte erzählen darf. Ich wünsche ihr, dass sie ihren Weg findet und ihn in Leichtigkeit gehen kann. Es ist der Weg der Seele, der sich brutal freigeschlagen hat und jetzt ganz langsam, achtsam wächst, sich zeigen möchte. * Claudia heißt in Wirklichkeit natürlich nicht so. Aber ich nenne sie so, damit ihre Privatsphäre gewahrt bleibt. Und dazwischen die Angst. Wegen des Geldes. Wovon soll man leben? Wegen des eigenen Erlebens. Wo führt es hin? Wenn alles wegbricht, weil der Körper zusammenbricht, wo führt das den Menschen hin? „Man spürt ganz stark, dass es eine tragende Kraft gibt. Auch wenn man glaubt, dass einen die Kraft jetzt vollkommen verlassen hat, dann ist plötzlich aus dem Nichts die Hoffnung da. Und man kann weiter.“ Es geht wohl nicht mehr in den alten Beruf zurück. So oder so. Auch wenn die Kraft wieder vollständig da ist. Diese Power kommt dann woanders her, nicht mehr aus dem Funktionieren-Müssen, sondern aus dem inneren, ureigenen Ich. Alle Systeme sind im Umbruch. Aber die Gesellschaft sollte doch menschlich sein, für Menschen da und von Menschen gemacht sein, nicht von Fragebogen, Statistiken, Beurteilungen, Boni. Da ist doch ein Fehler im System, wenn Kranke nicht mehr aufgefangen werden, keine Zeit mehr zur Gesundung haben. Das Ganze fing mit dem Unfall im Jahr 2014 an. Heute ist Claudia immer noch arbeitsunfähig. Leider, denn das ist – alles in allem – sehr anstrengend. Dass der Körper nicht mitmacht, auch wenn sie will. Immer wieder abwarten, geduldig sein, und den Druck spüren: der Ämter, der Gesellschaft, der Ärzte, die „nichts finden“, oder der Pfleger, die glauben, man simuliert. ANZEIGE 31

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